Die Diktatur der Mehrheit

Offenbar lernt man bei uns in den Schulen nicht mehr, was unser System der direkten Demokratie wirklich bedeutet. Viele scheinen die direkte Demokratie mit einer Diktatur der Mehrheit zu verwechseln.

Es wäre jetzt einfach, allein der Rechten – anhand der Durchsetzunginitiative –  dieses Problem mit dem Akzeptieren der demokratischen Prozesse anzulasten. Aber auch die Linke hat mit ihrer Gegeninitiative zur Masseneinwanderungsinitiative ein eher spärliches Verständnis für  unser System gezeigt.

Die Masseneinwanderungsinitiative ist ein gutes Beispiel für das schwindende Begreifen des langjährig funktionalen Regierungssystems der Schweiz. Die Hälfte der Abstimmenden plus 0.3 Prozent haben sich für die Initiative entschieden. Sie haben gewonnen, grosser Jubel auf der einen Seite, grosses Jammern und Zähneklappern auf der anderen Seite. Wär das ein Fussballmatch gewesen, würde man jetzt nach Hause gehen und vielleicht auf dem Heimweg noch ein paar Gegnern in die Fresse hauen.

Es ist aber kein Fussballmatch. Jetzt wird die Initiative im Parlament so zurechtgeschliffen, dass alle Schweizer damit leben können. In der Schweiz wird niemals eine Hälfte der Bevölkerung der anderen Hälfte vorschreiben, wie die Schweiz auszusehen hat. Das würde unser Land zerreissen. Es mag frustrierend sein, wenn die eigenen Interessen nicht zu 100 Prozent und wortgenau umgesetzt werden. Aber wir sind eine Demokratie, was heisst, dass wir ALLE an der Gestaltung der Schweiz beteiligt sind, auch über die Abstimmungssiege oder Niederlagen hinaus. Das nennt man dann Konsensfindung.

Und das Finden dieses Konsens ist die Hauptaufgabe unseres Parlaments. Unsere National- und Ständeräte werden nicht für ihre geilen Statements und ihr kämpferisches Auftreten gewählt. Sie werden gewählt, um in langen und langweiligen Sitzungen die Vorstellungen und Wünsche unseres Volkes so zu interpretieren, dass alle damit leben können. Dann wird ein Vorschlag ausgearbeitet, mit dem alle gleichermassen unzufrieden sind. Würden sie das nicht tun, würden wir uns in Kürze in einem Bürgerkrieg wiederfinden. Der „Sieg“ einer Abstimmung ist richtungsweisend, die Höhe des „Sieges“ gibt den Grad an, in dem dieser Richtung gefolgt werden soll. Abstimmungen sind kein Diktat über die Verlierer.

Das funktioniert auch in der Gegenrichtung. Kommt die Gegeninitiative zur Masseneinwanderungsinitiative durch, ist das Problem damit nicht vom Tisch, weil die Hälfte der Bevölkerung eben diese Abgrenzung gegen aussen will. Es wäre also nur eine graduelle Neuausrichtung, die wieder so umgesetzt werden muss, dass alle damit leben können.

Offenbar haben wir in den letzten zwei Jahrzehnten in den politischen Auseinandersetzungen die Tatsache aus den Augen verloren, dass wir ein Volk sind, das auch in Zukunft zusammenleben muss. Egal, wer eine Abstimmung oder eine Wahl gewinnt, die anderen werden deshalb nicht einfach aus der Welt verschwinden. Wir werden weiterhin gemeinsam Schweizer sein.

Wenn wir diesem schleichenden Zerfalls unseres Demokratieverständnisses nichts entgegensetzen, wenn wir zulassen, dass wir uns nicht mehr als Schweizer Gemeinschaft verstehen, unbesehen der politischen Ausrichtung, wenn wir zulassen, dass die einen die anderen als Feinde der Schweiz dissen, haben wir in Kürze alles verloren, was die Schweiz und ihre einzigartige politische Stärke und Tradition ausmacht.

Und da sind auch die Medien in der Verantwortung.