Sozialfall – vom Abgrund zurück

Ich lebte über 20 Jahre lang am Rande der Gesellschaft. Angefangen in meiner Kindheit mit meiner psychisch verwirrten und alkoholkranken Mutter, später mit meinen eigenen Dämonen. Mein Weg führte trotz stabiler Phasen eigentlich stetig nach unten, und niemand hätte mir vor 17 Jahren eine Chance eingeräumt, meinen Weg zurück in die Gesellschaft zu finden, am allerwenigsten ich selbst.

Heute lebe ich als verantwortungsbewusstes Mitglied der Gemeinschaft und bezahle Steuern im fünfstelligen Bereich, aber darauf komm ich später zurück.

Ich habs geschafft.

Nun könnte ich euch von der heldenhaften Anstrengung erzählen, mit der ich mich zurück in ein anständiges Leben gekämpft habe, von meiner Willensstärke, Cleverness, von meinem Mut und meinem unermüdlichen Fleiss.

Und es wäre Bullshit. Gelogen. Ich hab nichts heldenhaft alleine auf die Reihe gekriegt, ich wurde von der Gemeinschaft gestützt, getragen und wieder aufgenommen.

Im Dezember 2002 war ich wirklich total am Arsch. Ich lebte von Sozialgeld und hatte keine Perspektive mehr, war isoliert, depressiv, paranoid und rundum kaputt. Ich hatte meine Selbstachtung verloren, meine Würde, meine Fähigkeit, mit anderen zu kommunizieren. Ich stand vor der Wahl, mir das Leben zu nehmen, oder etwas Neues zu versuchen.

Das Neue war, dass ich um Hilfe bat und sie bekam. Sozial, medizinisch, therapeutisch. Der Staat, den ich über Jahre gehasst und bekämpft hatte, interessierte sich nicht für mein anarchistisches Geschwafel oder meine alten Straftaten, er interessierte sich nicht, ob ich ein freundlicher Mensch oder ein unausstehliches Arschloch war. Der Staat – und seine Vertreter – stellten mir einfach die Mittel zur Verfügung, um wieder in der Gesellschaft Fuss zu fassen.

Damals waren sowohl die Sozialhilfe wie auch die IV noch um einiges grosszügiger. Ich musste nicht um jeden Rappen kämpfen (dazu hätte ich sowieso nicht die Kraft gehabt), ich musste nur guten Willen zeigen. Ich hätte niemals die Energie gehabt, mich aus eigener Kraft aus dem Dreck zu ziehen. Ich hatte Unterstützung, die richtigen Menschen und ein Sicherheitsnetz, das es mir ermöglichte, Schritt für Schritt einen Weg ins Leben zurück zu finden. Es hat einige Jahre gedauert. Und das alles habt ihr mit euren Steuern finanziert. (Ein Danke an dieser Stelle).

Wenn man sozial am Rande steht, ausgebrannt und hoffnungslos ist, braucht man nicht zusätzliche Hürden, man braucht niemanden, der einem noch ein Bein stellt. Wenn man als Partei oder Politiker wirklich interessiert ist, Menschen vom Rande der Gesellschaft wieder zu integrieren, sollte man ihnen weder politisch ins Gesicht spucken noch ihnen finanziell in die Eier treten, wie das die SVP gerade macht.

Wenn ich jetzt sehe, wie verbitterte und seelisch kaputte Leute gegen Menschen hetzen, die Sozialhilfe beziehen, kommt mir das Kotzen. Einer der grössten Werte der Schweiz, nämlich dass in diesem Land niemand Not leiden muss, auch in Armut nicht, wird von frustrierten und bösartigen Menschen torpediert. Zum Glück sind diese von Hass getriebenen, neidischen und ehrlich gesagt armen Menschen nicht die Mehrheit.

Ich zahle Steuern. Ich lebe in einem Kanton mit sehr hohen Steuersätzen. Grundsätzlich arbeite ich 1 1/2 Stunden am Tag für den Staat. Eine Horrorvorstellung für viele.

Nicht für mich. Ich bin stolz, dass ich meinen Teil an die Gemeinschaft zurückzahlen kann. Ich bin stolz, dass aus dem Geld, das ich einzahle, vielleicht anderen eine Chance gegeben wird, aus ihrer schwierigen Situation etwas zu machen. Ich stelle mir immer vor, dass jedes bisschen meiner Steuern den 3.3 Prozent der Bevölkerung zukommt, die Sozialhilfe beziehen.