Pulleffekt oder die Tastatur-Henker

Im Zusammenhang mit Kapitänin Racketes Menschenrettung hört man nicht nur von rechten Spacken das Argument des „Pulleffekts“, den die Rettungsschiffe im Mittelmeer hätten.

Die Tastaturhelden meinen, dass weniger Leute die Reise wagen würden, wenn weniger Leute gerettet würden. Logisch nicht? Ist ja schon bitzli abschreckend, wenn man da keine Sicherheit hat. Da gibts nur zwei Probleme.

Das erste ist praktischer Natur:

Die meisten Flüchtenden ersaufen im Meer, ohne dass jemals jemand davon erfährt – ausser den Schleppern. Und die werden kaum ihr eigenes Geschäftsmodell schwächen, indem sie die Flüchtenden warnen. Diese pflichtvergessenen Wasserleichen machen also nicht  mal ihren Abschreckungsjob anständig. Denn nur die, die auch im Internet auftauchen, wo sie dann wahrgenommen werden, schrecken auch andere Flüchtlinge ab.

Das zweite Problem ist, sagen wir mal, ethisch rechnerischer Natur:

Wie viele Kinder, Frauen und Männer muss man verrecken lassen, um wie viele andere Flüchtlinge abzuschrecken? Rein rechnerisch?

10 tote Flüchtlinge schrecken 100 Menschen ab?

Oder sind es 50 Tote, die 5000 Flüchtlinge von einer Flucht abhalten?

Zählen Kinder doppelt? Und darf man sie auch erschiessen oder muss es unbedingt ersaufen sein? Kann man das von den Zahlen in den Flüchtlingslagern herunterrechnen und in einem Aufwisch erledigen?

Also, ihr Arschlöcher an der Tastatur, wenn ihr das nächste Mal von „Pulleffekt“ und „Abschreckung“ schwafelt, nehmt euer Argument ernst. Geht da runter in die Flüchtlingscamps, schaut den Leuten in die Augen und wählt als Lagerleiter die Kinder, Frauen und Männer aus, die zur Abschreckung verrecken sollen. Im Verhältnis 1:10. Ihr könnt euch ja selbst sagen, dass ihr die Leute nicht vor ein Erschiessungskommando oder in eine Gaskammer schickt, sondern dass sie an einem tragischen Unfall ums Leben kommen. Dann fühlt ihr euch besser.

Wisst ihr, jedes dieser Leben ist so viel Wert wie eures. Wie das eurer Frauen, Männer und Kinder.

Man kann durchaus die Flüchtlingspolitik kritisieren. Was man nicht kann, ist, Menschen zur Abschreckung verrecken lassen. Nicht einen einzigen. 

Menschen im Mittelmeer sterben zu lassen, um andere Flüchtlinge abzuschrecken, ist unaussprechlich böse. Es ist Nazi-böse. Konzentrationslager-böse. Es ist kalt rechnerisch geplanter Massenmord. Auch wenn man das Morden selbst den Naturgewalten überlässt.

Ja, jetzt kommen natürlich gleich die Typen angesockt, die meinen, Libyen oder Tunesien wären auch „sichere Häfen“. Nun ja, wenn man Folter, Erpressung und Vergewaltigung in Lagern als „sicher“ betrachtet, hat das Argument was. Vielleicht sollten diese Schwafler mal ein paar Tage in so einem Lager verbringen. Und wenn sie sich irgendwie unsicher fühlen, können sie sich an die Polizei wenden … oh, Moment. Die sind ja Teil des Auspressen der Flüchtlinge und bessern so ihr erbärmliches Gehalt auf.

Scheisse, wa?

So, ich hoffe, ihr seht die toten Gesichter eurer Familienmitglieder vor euch, wenn ihr das nächste Mal nach dem Verreckenlassen von Menschen ruft, weil ihr keine Flüchtlinge in eurer hochgeschätzten Nachbarschaft wollt.

Weil ihr Angst habt, diese Migranten würden unsere Werte zerstören. Aber, Spoileralarm, wenn wir Kinder, Frauen und Männer sterben lassen, um andere wegzuhalten, gibts keine Werte mehr, die es Wert wären, verteidigt zu werden.