(Aus aktuellem Anlass nochmals. Erstmals erschienen 2016 im Tages Anzeiger Stadtblog)
Man hört immer wieder von Fällen, in denen die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde offenbar völlig versagt hat. Was man nicht hört, sind die anderen 99 Prozent der Fälle, in denen diese Behörde Leben rettet und Katastrophen verhindert.
Die Negativbeispiele haben auch immer das gleiche Muster: Eltern, die sich ungerecht behandelt fühlen und sich lautstark zur Wehr setzen. Natürlich hört man die Kinder nicht, weil die noch keine Stimme haben. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich Eltern nicht dankbar zeigen, wenn man ihre Kinder fremdplatzieren muss. Es liegt aber auch in der Natur der Sache, dass die KESB nicht die Interessen der Eltern schützt und verteidigt, sondern die der Kinder. Eben, weil die noch keine Stimme haben und sehr leicht zu beeinflussen sind. Kinder würden sich niemals gegen Mama und Papa aussprechen, selbst wenn ihr Leben die Hölle ist.
Nun werden sich einige fragen, warum ich mich als kinderloser Mittvierziger zu diesem Thema äussere. Nun, ich war eines der Kinder, die froh gewesen wären, wenn es bereits eine KESB gegeben hätte. Ich wuchs in einer hoch dysfunktionalen Familie auf, und vom damaligen Sozialamt wurde erst eingegriffen, als bereits alles den Bach runtergegangen war. An den Verletzungen, die damals entstanden, arbeite ich noch heute. Hätte eine Behörde fünf Jahre früher eingegriffen, wer weiss, wie meine emotionale Persönlichkeitsstruktur heute aussähe. Und es gibt viele Kinder, die jetzt da draussen ein anständiges Leben leben, eben WEIL die Behörde eingegriffen hat.
Ich kenne einige Leute, die bei der KESB arbeiten, und es sind keine Monster, die im Namen einer anonymen Behörde Kinder in düstere Heime stecken. Es sind Menschen, die eine der schwersten Verantwortungen in unserem Staat tragen müssen. Sie müssen zum Wohle des Schwachen in die intimste Zelle unserer Gesellschaft – die Familie – eindringen. Das geht sehr selten ohne Widerstand. Greifen sie ein, werden sie gehasst. Greifen sie nicht ein, kann das im schlimmsten Falle zu Misshandlungen – psychisch öfters als physisch – oder sogar zu einem Kindsmord führen. Sie können also in den Augen der Öffentlichkeit nur versagen.
Und eben, da, wo sie erfolgreich intervenierten, mit Eltern, Schulen und Umfeld eine Lösung fanden, steht niemand hin und sagt der Presse: «Es ist jetzt alles gut gelaufen.» Es gibt keine grossen Schlagzeilen mit «Gut gemacht, KESB! Weiter so!»
Bei den KESB-Gegnern, die sich zum Teil wie clandestine Widerstandsgruppen aufführen, ist das Feindbild so gross, dass man sich nicht mehr in der Realität befindet. Die KESB wird zum Symbol der Unterdrückung, die verletzten Eltern zu Märtyrern. Das Credo: «Eltern wissen immer besser, was gut ist fürs Kind.» Der Kampf gegen die staatliche Übermacht wird zum Freiheitskampf stilisiert. Der eigene Unterstützerkreis versteht sich als romantische «Résistance». Und das erste Opfer in diesem dem Ego der Eltern geschuldeten Drama ist das Kindswohl.
Wer denkt, er handle fürs Kindswohl, wenn er sein Kind versteckt, entführt, ausser Landes bringt oder sonst irgendwie in einer Privatfehde mit einer Behörde als Spielball für das eigene Ego benutzt, hat in meinen Augen schon bewiesen, dass er oder sie als Elternteil versagt.
Natürlich ist die KESB nicht perfekt oder fehlerlos. Es gibt Fehlentscheidungen, schliesslich arbeiten da auch nur Menschen. Auch im relativ neuen System hats noch Fehler. Aber wir leben nicht in einer Diktatur, sondern in einem Rechtsstaat, in dem man Mittel und Wege hat, sich für sein Recht zu wehren. Dieser Weg kann lange und schwierig sein. Er ist auf jedenfall besser fürs Kind, als eine Schlammschlacht in der Presse oder ein Leben auf der Flucht.
Natürlich fühlen sich Eltern machtlos und wütend, wenn ihnen ihre Kinder weggenommen werden. Nur sollten sie dann ihren Kreuzzug gegen die Behörden nicht auf den kleinen Rücken ihrer Kinder austragen.