Armut, Anstand & Almosen

(Text erschien im Dezember 19 im Caritas  Sozialalmanach)

Es ist 1979. Ein Teller Spaghetti dampft auf dem Tisch, dazu Tomatensauce aus der Büchse, Aromat, kein Käse – das Mittagessen in den letzten Tagen des Monats, bevor meine Mutter wieder ihr prekäres Gehalt für ihren Teilzeitjob ausbezahlt bekommt.

In vielen Monaten leben wir unter dem Existenzminimum, in anderen Monaten reichtʾs knapp. Ich kann auch ab und zu ins Skilager oder mit der Pfadi mit. Aber nur, wenn meine Mutter sich irgendwo anders einschränkt. Natürlich trage ich die Kleider meiner Schwester aus.

Uns gehtʾs gut, anderen im Quartier gehtʾs schlechter. Meine Mutter war immer zu stolz, um sich beim Sozialamt zu melden, auch wenn es manchmal wirklich knapp wurde. Ihr Stolz liess es nicht zu, um Hilfe zu bitten. Leider.
Der Druck, alleine, ohne Hilfe, zwei Kinder durchzubringen, das ewige Damoklesschwert der nächsten Miete, des nächsten Einkaufs, der nächsten unvorhergesehenen Kosten, haben sie irgendwann gebrochen – Alkoholismus.

Die Scham

Selbst heute gilt in der Schweiz ein privater finanzieller Notstand noch immer unterschwellig als selbstverschuldet, ist mit Scham behaftet. Wer in Not gerät, hat sich nicht genug bemüht. Wer unter Not leidet, soll sich durchbeissen und nicht jammern. Wer Hilfe braucht, ist ein Versager. Solange das die anderen betrifft, hat man vielleicht Mitleid, aber keine Achtung mehr.

Kommt man dann aber selbst in eine Notsituation, bringt man sich selbst die gleiche mehr oder weniger subtile Verachtung entgegen, die man früher anderen gegenüber empfand. Der schlimmste Aspekt der Armut ist nicht, dass man zu wenig Geld zur Verfügung hat. Das Unerträglichste daran ist, in den eigenen Augen versagt zu haben. Man benötigt nicht nur Hilfe, um seine Rechnungen zu bezahlen, sondern vor allem auch, um seine Selbstachtung zurückzugewinnen.

Gezielte Abwertung

Aber es ist nicht nur die eigene Scham, die schmerzt. Zunehmend werden Notleidende und Hilfsbedürftige von politischen Kreisen abgewertet und instrumentalisiert. Von «Sozialschmarotzern», «Wirtschaftsflüchtlingen» und «Sozialhilfebetrügern» ist die Rede. Die giftige Verachtung für «Versager» weicht einem bösartigen Framing als Diebe, Schmarotzer und Betrüger. So rechtfertigt man den wuchernden Sozialabbau und gibt vor, den Mittelstand zu schützen.

Im Zuge dieser Abwertungen sind zurzeit schweizweit Anstrengungen zu beobachten, die Sozialhilfe um einen Drittel zu kürzen, um damit die Sozialhilfebezüger «zu motivieren». Das vermittelt die zynische Sicht, dass die Menschen sich ihre Not gewählt haben und nur etwas Druck bräuchten, um sich von ihrer geliebten Armut zu trennen.

In hatte in meinem Leben häufig mit Menschen am Rande der Gesellschaft zu tun. Kein Einziger dieser Menschen hätte nicht sofort seine Situation gegen ein Leben mit einer Arbeitsstelle getauscht, jeder Einzelne unter ihnen litt unter der Scham und dem Stigma der Sozialhilfe.

Die Schwächsten sind leichte Ziele, die sich selten selbst wehren können. Teile der politischen Landschaft tun sich schwer, sich für die Schwächsten einzusetzen, weil man mit ihnen keine Gewinne erwirtschaften kann oder weil das Thema – positiv besetzt – bei Wahlen keine Stimmen bringt. Das ergibt ein Bild einer breiten, empathiefreien Wählerschicht, die sich nicht mehr in das Leiden und die Unbill sozial benachteiligter Menschen einfühlen kann.

Der harte Weg zurück

1999, zwanzig Jahre später, ein Sozialamt irgendwo in der Stadt Zürich: Ich sitze vor meiner Sozialarbeiterin. Mein eigenes Leben hat seit meiner Kindheit einige schwierige Schlenker genommen, und ich bin durch meine Suchtgeschichte am Platzspitz und am Letten ganz am Ende. Ich lebe von Sozialgeld und habe keine Perspektive mehr, bin isoliert, depressiv, paranoid und rundum kaputt. Ich habe meine Selbstachtung verloren, meine Würde, meine Fähigkeit, mit anderen zu kommunizieren. Ich stehe vor der Wahl, mir das Leben zu nehmen oder etwas Neues zu versuchen.

Das Neue ist, dass ich um Hilfe bitte und sie bekomme. Sozial, medizinisch, finanziell. Der Staat, den ich über Jahre gehasst und bekämpft hatte, interessiert sich nicht für mein anarchistisches Geschwafel oder meine alten Straftaten, er interessiert sich nicht dafür, ob ich ein freundlicher Mensch oder ein unausstehlicher Idiot bin.

Die Hilfe

Immer wieder klopfen mir Leute auf die Schulter, weil ich die Kraft hatte, mich aus dem Drogensumpf und aus der Not wieder in die Gesellschaft zurückzukämpfen. Das ist nett. Nur ist es völlig an der Realität vorbei. Der Sozialstaat – und seine Vertreter – stellten mir einfach die Mittel zur Verfügung, um wieder in der Gesellschaft Fuss zu fassen. Ich bekam jede Unterstützung.

Nicht nur, dass mir in der Zeit ganz unten die Sozialhilfe einen Absturz in noch mehr Kriminalität ersparte, auch bei der Suche nach einem Therapieplatz und danach, bei der Wiedereingliederung in Gesellschaft und Arbeitsmarkt, hatte ich jede nur mögliche Hilfe. IV und Sozialhilfe ergänzten sich bei der Verantwortung für Therapie, Betreuung und Organisation – sie versuchten nicht, sich gegenseitig finanziell den schwarzen Peter zuzuschieben. Ohne zu übertreiben: Ohne diese Institutionen und die Menschen darin wäre ich jetzt wohl tot.

Der Kahlschlag

2019, weitere zwanzig Jahre später, bin ich Unternehmer, zahle Steuern, vergebe Aufträge und bin das, was man wohl ein verantwortungsvolles Mitglied unserer Gesellschaft nennt, eine Stütze der Gemeinschaft.

Heute stehe ich in der Schweiz einem politischen Klima gegenüber, das eine Wiedereingliederung, wie ich sie erleben durfte, nicht mehr wirklich ermöglicht. Die Sozialversicherungen sind von Dienstleistungsinstitutionen zu Unternehmen verkommen, die ihren Klienten mit einem grundsätzlichen Misstrauen begegnen. Der interne Spardruck führt dazu, dass der Fokus nicht mehr auf der Hilfe liegt, sondern darauf, Argumente für eine Ablehnung teurer Leistungen zu finden.

Die IV erlitt einen antisozialen Kahlschlag, die Sozialhilfe steht unter Beschuss, beim Thema «Sozialversicherungen» dominieren die 1,6 Prozent Missbräuche und nicht die restlichen 98 Prozent Hilfe. Das Ziel scheint nicht mehr zu sein, für eine Wiedereingliederung oder für den Menschen zu sorgen, sondern die Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger möglichst abzuschmettern, ihnen den Zugang zu Mitteln möglichst zu erschweren. So bekommen zum Beispiel IV-Gutachter, die häufiger Patienten für «gesund» befinden, auch mehr Aufträge (siehe «So wählt die IV ihre Gutachter aus», «Tages-Anzeiger» vom 27. November 2015) Anstatt Menschen in Not zu helfen, werden den Bedürftigen höhere Hürden in den Weg gestellt.

Dabei würde ein Blick in die Präambel unserer Bundesverfassung reichen, um den Auftrag unserer Gesellschaft zu erkennen:

«… dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.»

Stattdessen werden mit dem Argument des Sparens Institutionen ausgehöhlt und Leistungen abgebaut – und das bei gleichzeitigen Steuergeschenken an die Reichsten. Verantwortungsgefühl und Gemeinsinn, Säulen der Schweizer Gesellschaft, werden systematisch zerstört. Was in der Nachkriegszeit noch „Gemeinsinn“ genannt wurde, erodiert in einer superindividualisierten Gesellschaft zu einer negativ bewerteten Eigenschaft.

Über das Recht, in Würde zu leben

Vor der Entstehung unserer Solidargesellschaft, des Sozialstaates, galten die Grundbedürfnisse Essen, Kleider (ohne Schuhe) und ein Bett als genügend. Damals hatte auch jeder Bauer nicht mehr. Hunger war verbreitet, Menschen wanderten aus wirtschaftlichen Gründen aus. Hauptziel war, dass die Armen nicht verhungerten, nicht erfroren und nicht auf der Strasse schliefen.

In einigen Köpfen scheint sich dieser Massstab von gestern gehalten zu haben. Sie messen das Wohl der Schwächsten noch immer an der reinen Überlebenshilfe – Essen, Kleider, Bett –, egal, ob Flüchtende, Sozialhilfebezüger und Sozialversicherungsnehmer. Das entspricht aber nicht der Intention und der Aufgabe unseres Sozialstaates. Ebenfalls in unserer Verfassung steht, dass die Menschen in unserem Land das Recht haben, in Würde zu leben. Und das heisst, dass ein Mindestmass an Teilnahme an der Gesellschaft garantiert ist:

«Die Würde des Menschen ist

zu achten und zu schützen.»

Nun, das bedeutet wohl, dass es nicht mit Almosen getan ist. In Würde leben heisst, dass man am Leben und an den sozialen Interaktionen teilnehmen kann. Es heisst nicht, dass jemand einfach nur Essen und ein Bett bekommt.

Teil der Gesellschaft

Es geht aber nicht nur um Würde. Es ist nachgewiesen, dass Menschen, die an der Gesellschaft teilhaben können, eher auch wieder in diese integriert werden, weniger Probleme haben, wieder im ersten Arbeitsmarkt Fuss zu fassen und weniger anfällig für chronische Armut sind. Wer von Almosen und Brosamen leben muss, verliert die Achtung vor sich selbst und kann die Kraft nicht aufbringen, die es braucht, um seinen Weg zurückzufinden. Ich weiss, wovon ich spreche.

Wenn ich keine sozialen Kontakte mehr pflegen kann, weil ich mir den einen Kaffee pro Woche nicht mehr leisten kann, wenn meine Kinder in der Schule ausgeschlossen und gehänselt werden, weil sie nicht an Aktivitäten teilnehmen können, wenn ich Freunde in der Freizeit nicht mehr begleiten kann, dann verliert mein Leben an Würde und mündet in Isolation, oft sogar Krankheit.

Zurück zum Gemeinsinn

Es ist Zeit, sich wieder auf unsere humanitären Stärken und unsere schweizerischen Werte zu besinnen, auf unseren tief verwurzelten Gemeinsinn, die Solidarität, die in jeder Schweizer Dorfgemeinschaft, in jeder Nachbarschaft, in jeder Stadt und nicht zuletzt in unseren Institutionen sichtbar gelebt werden – auf Werte, die sich nicht auf Konten einzahlen lassen. Das hat nichts mit «links» oder «rechts» zu tun. Die Schweiz war schon immer ein Hafen für Reiche und Unternehmen, das ist auch gut so. Aber wir haben immer geschaut, dass diese Privilegierten ihren Teil an die Gemeinschaft leisteten.

Schauen wir, dass wir nicht Geld über Mitgefühl setzen, nicht Freiheit mit Verantwortungslosigkeit, Erfolg mit Gier verwechseln. Wir können uns das leisten. Was wir uns nicht leisten können, ist die soziale Kälte, die am Horizont heraufzieht.