Die Abwesenheit des Todes

Ich frage mich immer wieder, wie Menschen in dieser Pandemie immer stärker in eine antisoziale Spirale geraten, in denen sie ihr Recht auf Konsum über das Leben und die Gesundheit anderer Menschen stellen. Wie es sein kann, dass der Besuch eines Clubs oder die Anonymität im Netz wichtiger ist als ein Wesen aus Fleisch und Blut, mit Freuden, Ängsten, Familie und Hoffnungen.

Ich dachte mir, die 11 000 Toten müssten doch auch noch den letzten empathiebefreiten Hassbratzen erreichen und selbst ein Herz aus Silikon berühren. Aber nein. Es tauchen immer neue Exponenten und Player auf, die sich pathetisch in die Brust werfen, und sich als Freiheitskämpfer/Bürgerrechtler aufspielen. Allerdings, ohne irgendwas zu riskieren. Natürlich ist bei solchen Leute mit „Freiheit“ immer die eigene gemeint, und mit „Opfer bringen“ immer die anderen.

Und dann gings mir auf, als ich einen Tweet von Auschwitz-Memorial-Account sah. 10 000 Tote – oder 6 Millionen Tote – sind zu abstrakt. Das ist eine anonyme Zahl, das ist zu rational. Wenn man aber die Tweets sieht, in denen der Auschwitz-Account Opfer der Shoah vorstellt, bekommt der Tod und das Grauen ein Gesicht.

In der Schweiz scheinen wir zu weit vom Tod entfernt zu sein. Die Menschen sterben hier nicht in ihren Familien. Die meisten meiner Bekannten haben noch nie jemanden sterben sehen. Natürlich hat man verstorbene Verwandte und Bekannte. Aber die waren eines Tages einfach nicht mehr da. In Spitälern werden sie von der Pflege in den Tod begleitet, bei Unfällen wird als Erstes ein weisses Zelt aufgebaut. Wir sehen keine Toten mehr. Wir sind bei Abdankungen dabei, in denen ein Bild gezeigt und vielleicht der Lieblingssong der Person gespielt wird. Und irgendwo steht eine Urne. Wir kennen das Sterben nicht mehr persönlich. Der Tod kommt per Anruf oder Email.

Mich hat der Tod immer persönlich begleitet. Das erste Mal am offenen Sarg meiner Grossmutter. Dann bei verschiedenen Familienmitgliedern, die an Krebs starben, langsam. Und bei einer Cousine, die ihre Kindheit nicht überlebte.

Später natürlich in meiner Zeit am Platzspitz und Letten, in der ich einen Grossteil meiner Clique an Überdosen oder HIV verlor. Wo man jeden Tag einer Leiche mit einer Nadel im Arm begegnen konnte, wo ich fremde Menschen beatmete, bis der Krankenwagen kam und die Sanitäter den Tod feststellten. Bei Menschen, an deren Betten ich sass, während die Krankheit langsam das Leben wegfrass und irgendwann quälend langsam dem Tod Platz machte.

Und natürlich mein eigenes Leben, das ich der Gemeinschaft verdanke, den Steuerzahlern, die meine Therapie bezahlten, den medizinischen und sozialen Fachkräften, die mich mit unendlicher Geduld aus den zähen Fäden meiner Krankheit befreiten.

Vielleicht ist es das: Ich bin dankbar. Und ich will auch einen Teil an die Gesellschaft zurückgeben. Wenn ich mich dafür impfen lassen muss, wenn ich dafür Maske tragen muss, wenn ich mal ein, zwei Jahre nicht in Clubs abfeiern kann, so what? Was hat das für ein Gewicht im Gegensatz zu einem Menschen, dessen Licht ein, zwei, drei oder mehr Jahre früher erlischt, mit allen Eigenheiten, mit allen Schrullen und Träumen?

Und ganz sicher würden die Schwurbler, die Asozialen und die libertären Dummbatzen ganz anders reagieren, wenn sie Menschen kennen würden, die effektiv ihr Leben durch Covid oder ihr Potenzial für die Zukunft durch Longcovid verloren haben.

Vielleicht müsste man diesen Leuten den versteckten Tod, die schmerzhafte, stinkende, verzweifelte Realität von Krankheit wieder näher bringen. Vielleicht sollten sie, bevor sie in den Medien zitiert, auf die Bühne des Schweizer Fernsehens kommen, erst mal jemandem die Hand halten, der voller Angst langsam erstickt, oder einem jungen Menschen durch den Alltag helfen, der durch die Long Covid-Erschöpfung in Depressionen untergeht.

Vielleicht hat die Schweiz in ihrer materiell privilegierten Position, mit ihren wohlstandsverwahrlosten Superindividualisten, etwas Wichtiges verloren: Die Wertschätzung des Lebens anderer, selbst wenn sie nicht aus der eigenen Familie kommen. Das Mitempfinden, die Empathie, die notwendig sind, um über sich selbst, über die eigene Bubble oder über die eigenen Vorteile hinauszusehen. Die Stärke, die es braucht, um auf etwas Kleines zu verzichten, um etwas Grosses möglich zu machen.

Manchmal will ich diese Leute einfach nur schütteln, am Kragen in die nächste Leichenhalle schleppen, ihnen ihre Gesichter ganz nahe an das Gesicht eines verstorbenen Menschen halten und sie anschreien:

„Das war ein Mensch, du egoistischer Vollhonk. Eine Impfung hätte gereicht, um die Infektionskette zu unterbrechen, die diesen Menschen umgebracht hat. Ein Restaurantbesuch weniger, eine kleine Einschränkung mehr, und dieser Mensch würde noch lachen, essen, lieben und mit seinen Freunden und seiner Familie leben, du dämlicher Vollidiot.“

Ja, leider ist das nicht erlaubt.