(Disclaimer: Ich schreibe hier über Personen, mit denen ich zum Teil im Rechtsstreit liege. Trotzdem werde ich erkennbare Klarnamen verwenden, weil es sich um Protagonisten des öffentlichen Lebens handelt, und ich dies der Fairness schulde. Ich verzichte auf eine visuelle Dokumentation, die genannten Äusserungen sind offen auf den Social Media-Profilen der Protagonisten einzusehen.)
Es gibt in dieser Pandemie ein Phänomen, das ich den „Attila-Effekt“ nenne, weil es zuerst beim ehemaligen Vegan-Koch Attila Hildmann deutlich zu erkennen war. Eine Person, meist extrovertiert bis narzisstisch, schon unter normalen Umständen, rutscht in einer Krisensituation wie der Pandemie immer stärker in eine Wahnwelt ab. Meist begleitet von fanatischen Groupies zeichnen sie eine immer holzschnittartigere Version der Realität, bis hin zu Verschwörungstheorien, die man nur noch Wahnsinn nennen kann.
Man muss sich bewusst machen, dass Hildmann nicht eines Morgens aufstand und aus heiterem Himmel dachte, er sei der neue Hitler. Der Weg vom machoiden, narzisstischen Vegan-Koch zum psychisch Kranken, der zum totalen Krieg aufruft, war schleichend, aber mit einer steilen Kurve nach unten am Ende.
In der Schweiz hab ich eine ähnliche Entwicklung, wenn auch (noch) nicht bis zu diesem Extrem, bei einem Protagonisten der Massnahmengegner gesehen. Der frühere Shootingstar der Jungfreisinnigen, Nicolas A. Rimoldi, war vor zwei Jahren noch ein zwar nerviger, aber auch umtriebiger und fähiger Jungpolitiker mit Gespür für relevante Themen. Er war logischen Argumenten zugänglich, konnte mit den Medien umgehen und hatte die einen oder anderen politischen Erfolge zu feiern. Er hätte also durchaus ein rechtsliberaler Pfeiler der Gesellschaft werden können. Das war bevor die Corona-Krise kam.
Seit Rimoldi sich bei den Massnahmengegnern engagiert, also über ca 18 Monate hinweg, hat er sich von einem Politiker in eine Art selbsternannte Heilsgestalt der Gegnerszene verwandelt. Seine früher geschliffene Rhetorik wich Woche für Woche extremeren Gedankenbildern. Angefeuert durch Manipulatoren im engsten Umfeld und einer Gefolgschaft, die ihn in seiner verschobenen Realität unterstützte, sieht er sich heute als Kämpfer gegen eine „Diktatur“, spricht von „politischen Gefangenen“, vom „Recht auf Widerstand“ und denunziert Staat, Demokratie und Regierung in einer Art Endzeit-Bürgerkriegsrhetorik als Unterdrückungsapparat.
Kurz, der Mann hat den Bezug zur Realität verloren. Zwar schleichend, aber doch so, dass seine alten und nun auch seine neuen Weggefährten sich langsam von ihm abwenden.
Um es klarzustellen: Hier geht es nicht um seine politische Position. Die mag nicht meiner entsprechen, aber das ist Teil einer Demokratie. Hier gehts um persönlichen Realitätsverlust, der in einer öffentlich sichtbaren Radikalisierung mündet. Nur ist diese Radikalisierung keine politische, sondern eher eine psychische Entwicklung.
Viel deutlicher und schneller habe ich den Prozess bei dem zweiten Protagonisten, dem aus dem linksliberalen Lager stammenden Hernâni Marques wahrgenommen. Marques war schon immer ein engagierter Streiter für seine Themen, und ich schätzte ihn bei verschiedenen Anlässen in der Vergangenheit als Gegenspieler, weil er seine Positionen mit Herzblut und einer gewissen Integrität vertrat. Seit er aber in der Kampagne gegen das Covid-Gesetz aktiv ist, befindet er sich in eben dieser Spirale, die ich bei Hildmann und bei Rimoldi in unterschiedlicher Intensität habe wahrnehmen können.
In den letzten Wochen wurde Marques Ton immer hysterischer, seine politischen Gegner haben nicht mehr Unrecht, oder sind „Idioten“, was ich verbal durchaus nachvollziehen könnte, sondern sie sind jetzt „Rote Khmer“, „Stalinisten“, „Psychopaten“ – kurz kranke Massenmörder. Er setzt zum Teil an die hundert Tweets täglich ab, in denen er sich an den Gegnern (Disclaimer: auch an mir) abarbeitet. Er wähnt sich unironisch in einer Schlacht gegen das personifizierte Böse. Hier, wie bei Rimoldi, zeigen sich erste Auswirkungen. Alte Weggefährten distanzieren sich, oder fühlen sich verpflichtet, sein Handeln zu erklären oder zu entschuldigen.
Was bei allen drei hier erwähnten Beispielen gemeinsam ist: Sie zeigen in öffentlichen Medienauftritten ein ganz anderes Gesicht, als wenn sie sich vor ihrer Gefolgschaft äussern.
Versteht mich nicht falsch: Es geht mir nicht um die harte Sprache. Wer bin ich, dass ich anderen eine harte Ausdrucksweise vorwerfen könnte? Ich gehe selbst oft unter die Gürtellinie. Mir machts auch nichts aus, wenn mich jemand „Arschloch“ nennt oder meint, ich solle mich „hart ficken“. Damit hab ich kein Problem. Wenn man aber den politischen Gegner als Monster, als Diktator, als Massenmörder darstellt, gibt man damit auch automatisch die Berechtigung, Gewalt gegen eben diese auszuüben. Und das ist einfach ein Schritt zu weit.
Das macht den Unterschied zu einer harten Diskussion: Sie entmenschlichen ihre Gegner, zeichnen sie zu Bestien und Unterdrückern, was am Ende des Gedankens eigentlich legitimiert, diese auch physisch anzugreifen und Gewalt einzusetzen. Bei Rimoldis Gefolgschaft führte das dazu, dass sie in MassVoll-Tshirts versuchten, das Bundeshaus zu stürmen oder dass Wirte sich mit Gewalt gegen die Durchsetzung der Massnahmen wehren. Bei Marques Gefolgschaft führt das zu Eingriffen in die Privatsphäre, Cyberattacken, anonymen Anrufen und Drohungen und Identitätsdiebstahl.
Sicher haben die beiden nicht selbst zu diesen Übergriffen aufgerufen, aber genauso sicher haben sie sie mit ihrer Rhetorik und ihrem Realitätsverlust impliziert und angeheizt.
An irgendeinem Punkt in den letzten Tagen kamen mir diese Geschichten sehr bekannt vor. Und ich erinnerte mich daran, wie ich mich selbst in den späten 80ern und frühen 90ern radikalisierte. Wie ich plötzlich einen Staat sah, dessen Vertreter „Schergen“ waren, und die man angreifen durfte, weil man ja selbst absolut im Recht ist. Ich erinnere mich auch an die Schriften der Ulrike Meinhof, in denen man über die Zeit den Absturz erkennen kann, der am Ende dazu führte, dass sie andere Menschen als Schweine, die man töten darf, identifizierte.
Ich kenne also diese Mechanismen aus meiner persönlichen Geschichte und muss auch heute immer wieder darauf achten, dass ich nicht die Verhältnismässigkeit verliere. Aber ich bin mir dessen bewusst.
Noch ist es hier weder bei unseren Protagonisten, noch bei deren Gefolgschaft wirklich so weit, dass sie selbstverständlich Gewalt anwenden, auch wenn das Alarm-Level der Sicherheitskräfte schon erhöht ist. Die Sprache, die Rhetorik, die verbale Loslösung vom rechtsstaatlichen Rahmen hin zum alles erlaubenden „Freiheitskampf“ sind aber klar auf dem Weg in die „legitimierte“ Gewaltanwendung .
Es kann sein, dass eine verlorene Abstimmung, eine eingebildete oder echte Schmähung, eine Zurückweisung, eine vernichtende Argumentation dazu führen, dass dieses Pulverfass explodiert.
Und wie gesagt, hier gehts nicht mehr um Politik. Hier gehts um persönliche, öffentlich nachvollziehbare Radikalisierung.