Ein Konzert in Bern wurde von den Veranstaltern abgebrochen, weil sich einige (anonyme) Gäste durch die Dreadlocks und die „afrikanische“ Kleidung von zwei Musikern gestört fühlen. Man benutzte den Ausdruck „kulturelle Aneignung“ dafür, da keiner der beiden Musiker afrikanische Gene vorweisen konnte.
Zuerst einmal: Die Hälfte meines genetischen Mixes stammt vom südlichen Kontinent, mit ein paar jüdischen Spuren und noch etwas iberische Halbinsel. Dürfte ich dann Dreadlocks tragen? Weite, bunte Gewänder? Einen Fez? Den pseudo-woken Sittenwächtern ist offenbar nicht bewusst, dass es keine einzelne „afrikanische Kultur“ gibt. Es gibt zehntausend Stämme, von der Sahelzone bis nach Südafrika, von Senegal bis Kenia. Mit eigener Sprache, eigener Musik, eigener Religion. Viele dieser Stämme haben sich in den letzten paar tausend Jahren bekriegt, sich gegenseitig versklavt und sich gegenseitig kulturell beeinflusst, wie überall in der Menschheitsgeschichte. Auch in Europa. Die Römer haben Griechen, Germanen, Nordafrikaner, Sachsen besiegt und deren kulturellen Identitäten in sich aufgesogen. Kultur war schon immer ein Mix, ungeachtet der gewalttätigen Geschichte der Durchmischung. Und das ist gut so. Ansonsten wäre nämlich von vielen Kulturen nichts mehr da, keine Überlieferung, keine Wertschätzung.
Kultur ist nicht etwas, das man „besitzt“ oder „sich aneignet“. Kultur ist etwas, das man lebt, weitergibt, sich davon bezaubern und beeinflussen lässt, und das unabhängig davon, wer die Eltern waren oder was für einen Genmix man trägt. Kultur ist kein Besitztum, sondern eine fliessende, wachsende, sich verändernde Identität, die sich die unterschiedlichsten Menschen teilen und so in Leben und Kommunikation Zugang zueinander finden. In Musik, Literatur, Kleidung oder Lebensstil.
Natürlich haben weisse Völker andere Kulturen über den ganzen Planeten hinweg unterdrückt, verschleppt, versklavt und ausgeblutet. Natürlich ist Rassismus noch immer eines der zentralen Probleme in unseren Gesellschaften. Aber mit dem Ansatz, gegen „kulturelle Aneignung“ vorzugehen, kämpft man nicht gegen dieses Übel.
Der Heiri mit den blonden Dreadlocks und die Fränzi mit den bunt gewebten Klamotten sind nämlich sicher nicht die Rassisten, gegen die man vorgehen müsste. Sie sind vielleicht einfach etwas folkloristisch fehlgeleitet und haben einen fragwürdigen Geschmack. Geschenkt. Aber eigentlich sind es wohl genau diese Leute, die sich durch ihr Leben und Handeln im Alltag gegen Rassismus einsetzen, auch und gerade als Nichtbetroffene. Rassismus lässt sich nämlich nicht alleine von PoC überwinden, dazu braucht es alle.
Ein ungutes Gefühl hinterlässt der Aufschrei gegen kultureller Aneignung bei mir, weil es mich an die Rechte erinnert, welche die Schweizer Kultur schützen wollen und so zum Beispiel heulen, wenn Albanischstämmige das Schweizer Fussball-Nati-Trikot tragen. Aber da will ich gar nicht weiterdenken.
Was mich etwas sauer macht, ist, dass die Sichtweise der „kulturellen Aneignung“ die eigentliche Kraft einer Kultur bagatellisiert, verzwergt. Dass sie die Überlebenskraft kultureller Werte negiert und sie wieder in die Opfer-Ecke stellt, aus der sie sich gegen Gewalt und Unterdrückung aus eigener, ansteckender Kraft befreit hat.
Die Kultur, die durch Sklaven von Afrika und Asien nach Europa und nach Amerika gebracht wurde, ist die unaufhaltsame, ununterdrückbare subversive Macht, die sich selbst in die weisse Lebens- und Denkweise eingewoben hat. Diese Kultur und ihre Vermischung mit der herrschenden eurozentrischen Lebensweise war dafür verantwortlich, dass es überhaupt sowas wie antirassistische Bewegungen gibt.
Wer also kulturelle Werte als Besitz und nicht wie eine Urmacht des menschlichen Wesens definiert, schadet ihr in erster Linie und versucht, sie einzusperren, zu kastrieren.
Kultur ist subversiv und verbreitet sich. Dass zum Beispiel kulturelle Elemente aus Afrika in allen Formen der Popkultur prägend, wenn nicht sogar bestimmend sind, zeugt von deren Energie und Power. Die Durchmischung der Kulturen zeugt vom Wachstum der Menschheit und legt ein Zeugnis der möglichen, gemeinsamen Zukunft ab.